Wie du starke Charaktere für dein Drehbuch entwickelst

Tipps von Campbell, Jung und Mackey, um dreidimensionale Charaktere zu schaffen.
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Gut durchdachte Figuren handeln niemals zufällig und sagen keine zufälligen Worte: Ihre Motive sind klar, ihr Schmerz ist echt, ihre Handlungen sind authentisch. Man glaubt ihnen, will ihnen folgen - manchmal sogar mehr als der eigentlichen Handlung eines Films (oder Buches, Spiels, etc.).

Damit auch du dein Publikum mit deinen Figuren begeistern kannst, findest du in diesem Artikel einige wichtige Schritte, um einen starken Charakter zu schaffen. Im Fokus stehen die drei Hauptbestandteile, die eine Figur definieren: Charakter, Sprache und Handlungen.

Charakter der Figur

Der einfachste Weg, eine Figur zu definieren, besteht darin, sich zahlreiche Fragen über sie zu stellen. Von grundlegenden Fragen wie „Ist sie pessimistisch oder optimistisch?“ bis hin zu Details wie „Legt meine Figur ihre Kleidung in den Schrank oder wirft sie sie einfach auf den Stuhl?“. Du kannst nie zu viele Fragen zur Charaktererstellung stellen, die wichtigsten Aspekte solltest du aber auf jeden Fall abdecken:

Biografie (Alter, Herkunft, Ausbildung)

besondere Fähigkeiten und Interessen

Kultureller und sozialer Hintergrund

– Werte und Ziele im Leben

Stärken und Schwächen

Ängste

Sei darauf vorbereitet, dass die Arbeit an den Fragen und Antworten über deine Figur viel Zeit in Anspruch nehmen wird. Das schöne daran: einen Teil davon kannst du für die eigentliche Geschichte wiederverwenden. Das ist ganz normal - denn Autor:innen sollten immer viel mehr über ihre Charaktere wissen als die Zuschauenden. Wenn du die Hintergrund-
geschichte des Charakters und verschiedene Details über ihn im Kopf hast, fällt es dir leichter, Handlungen und Dialoge zu erfinden, die in die Geschichte passen.

Die Arbeit an einem Charakter ist immer ein wenig chaotisch. Es beginnt damit, dass du Ideen aus deinem Kopf, gespeicherten Nachrichten und Notizen sammelst, diejenigen aussortierst, die nicht gelungen sind, und dann aus diesen Fakten einen kompletten Charakter zusammensetzt. Bei diesem Prozess können die Archetypen von Carl Jung dir helfen.

Archetypen sind Assoziationen und Bilder, die uns allen bekannt sind (unabhängig von Alter, Herkunft, usw.). Sie basieren auf grundlegenden und wichtigen Charaktereigenschaften, die für jeden Menschen Bedeutung haben. Zum Beispiel, wir waren alle einmal Kinder und verstehen daher aus eigener Erfahrung, wie es ist, eine emotionale Bindung zu Eltern (oder anderen Bezugspersonen) zu haben.

Für Kreative, die mit Drehbüchern und Texten arbeiten, sind Archetypen aus mehreren Gründen wichtig:

sie sind Vorlagen, die in jeder Art von Geschichte funktionieren

sie sind Bilder, die alle verstehen, wodurch man Charaktere schafft mit denen jede:r etwas anfangen kann

sie schaffen einen Rahmen und verhindern, dass die Figur inkonsistent wird (man verwirft aufgrund des Rahmens Eigenschaften, die nicht zu ihr passen)

 

Es gibt viele Archetypen, die vier relevantesten haben wir für dich zusammengefasst:

– die Persona - das, was der Charakter sein möchte (aber nicht unbedingt sein muss)

– der Schatten - ein Alter Ego, die dunkle Seite des Charakters, die er zu unterdrücken versucht (aber in Extremsituationen zum Vorschein kommt)

– Animus und Anima - das Weibliche* und das Männliche* (sexualisierbare Aspekte)

– das Selbst - die Gesamtpersönlichkeit der Figur (das Bewusste und das Unbewusste)

Wenn du eine Figur erstellst, kann sie von einem Archetyp zum anderen wechseln oder sogar mehrere Archetypen gleichzeitig in sich tragen.

Sprache der Figur

Die Art und Weise, wie deine Figur spricht, zeigt, was für eine „Persona“ sie ist. Im Gegensatz zu unserem Aussehen oder unseren Handlungen haben wir unsere Sprache (fast) vollständig unter Kontrolle - und formen so mit Worten das gewünschte Bild von uns selbst. Deshalb sagen gute Charaktere nur selten, was sie wirklich denken und fühlen.

Nach Robert McKee gibt es drei Ebenen für die Sprache:

Das Gesagte: d. h. buchstäblich das, was der Charakter gesagt hat (zum Beispiel „Natürlich kann ich dir Geld leihen“)

Das Ungesagte: etwas, worüber der Charakter nachgedacht hat, aber beschlossen hat, es nicht zu sagen (zum Beispiel „Ich selbst habe kaum Geld, aber es ist wichtiger, Freunde zu unterstützen.“)

Das Unsagbare: die unbewussten Bedürfnisse der Figur, die ihre Worte und Handlungen bestimmen (die Figur spricht nicht über ihre Bedürfnisse und tut ihren Freunden so viele Gefallen wie möglich, weil sie Angst hat, sie sonst zu verlieren und allein zu bleiben)

Die Arbeit mit dem Gesagten und dem Unsagbaren ist in Geschichten nützlich, weil du damit Spannung erzeugen kannst. Für das Publikum ist es interessant zu entschlüsseln, was die Figur wirklich meint (vor allem, wenn man genug über ihre wahren Motive weiß). Diese Vielschichtigkeit sollte aber nicht ständig betont werden - im wirklichen Leben sprechen wir auch nicht ständig in Andeutungen. Stattdessen sollte jeder Satz einen Grund haben - deine Figur sollte niemals etwas ohne Grund sagen. Deswegen legen gute Autor:innen in ihren Dialogen wirklich jedes noch so unscheinbare Wort auf die Goldwaage.

Nicht nur was eine Figur sagt, sondern auch wie sie es sagt, beeinflusst die Wahrnehmung der Lesenden und Zuschauenden. Der Charakter, die Stimmung und der Hintergrund einer Figur können schon mit in einzelnen Wörtern deutlich gemacht werden:

  1. Terminologie und Eigennamen. Wenn ein Kunstkritiker ein Kunstwerk als „alt“ (und nicht als „Renaissance-Kunst“) bezeichnet und ein Pariser statt „Seine“ einfach nur „Fluss“ sagt, dann wirken sie nicht gerade wie typische Kunstkritiker oder Pariser.
  2. Emotionale Schattierung. Man kann das gleiche Wetter unterschiedlich bezeichnen. Für den einen „regnet es“, für den anderen „gießt es wie aus Eimern“. Das zeigt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung einer Situation sein kann.
  3. Modalverben. Wenn der Charakter häufig Wörter wie „muss“ und „soll“ verwendet, ist er eher passiv. Der Charakter hat das Gefühl, dass er auf die Erlaubnis von jemandem wartet, um etwas zu tun.

Handlungen der Figur

Hinter jeder Handlung einer Figur, wie hinter jedem Satz, steckt eine Botschaft. Der Besuch im Fitnessstudio, im Kino oder in der Bar sollte durch etwas motiviert sein, d. h. einen Zweck haben. Zum Beispiel könnte deine Figur einen Gin Tonic trinken, weil sie: a) einen schlechten Tag hatte und ihn vergessen will, b) sich nicht traut, mit jemandem zu sprechen, c) sich in Gesellschaft langweilt. Natürlich kann diese Person auch einfach Gin Tonic trinken, weil sie Gin Tonic mag - aber für dein Drehbuch sollte immer mehr dahinter stecken.

Wenn das Ziel der wichtigsten Handlungen der Figur klar ist, müssen sie in eine logische und funktionierende Kette gebracht werden. Zu diesem Zweck kannst du einen Charakterbogen erstellen - ein Schema, das zeigt, welche (positiven und negativen) Veränderungen mit der Figur geschehen werden. Du kannst diesen Bogen selbst erstellen: ein Diagramm zeichnen, die wichtigsten Veränderungen des Charakters eintragen (die guten oben, die schlechten unten), eine Linie durchziehen und sehen, wie wellenförmig sie wird. Oder du nutzt eine schon vorgefertigte Vorlage:

  • Transformationsbogen - Die Figur beginnt als gewöhnlicher Mensch und endet als Held:in.
  • Bogen positiver Veränderungen - Die Figur beginnt als Bösewicht und endet als eine gute Person.
  • Bogen negativer Veränderungen - Die Figur beginnt als gute Person und endet als Bösewicht (oder endet in einer Misere).
  • Statischer Bogen - Die Figur beginnt und beendet die Geschichte auf die gleiche Weise (sie verändert sich nicht unter dem Druck der Umstände).
Der „Charakterbogen“ am Beispiel des Märchens Aschenputtel. Quelle: eadeverell.com

Eine andere Möglichkeit, aus den Handlungen einer Figur eine Geschichte zu machen, besteht darin, eine Heldenreise zu konstruieren. Dies ist ein Modell, erfunden von Joseph Campbell, das du vielleicht schon aus Marvel-Filmen kennst. Die Heldenreise besteht in der Regel aus 17 Stufen:

Der Aufbruch

1. Etwas drängt die Figur zu einem Abenteuer.

2. Die Figur lehnt das Abenteuer ab, weil sie ihre Komfortzone nicht verlassen will. Aber der Druck wächst und sie muss sich der Herausforderung stellen.

3. Die Figur erhält zu Beginn ihrer Reise übernatürliche Kräfte.

4. Die Figur überwindet ein Hindernis, das ihr den Beginn des Abenteuers erschwert - hier kann sie Verbündete suchen, die ihr helfen können (z. B. indem sie sich mit anderen Gefangenen zusammentut, um einen Gefängnisausbruch zu organisieren).

5. Die Figur gelangt in den „Bauch des Wals“ - das Herz der Abenteuerwelt.

Die Initiation

6. Die Figur besteht die ersten Prüfungen.

7. Begegnung der Figur mit “dem Gotte / der Göttin“ - meistens der Vater / die Mutter (oder jemand, zu dem sie eine elterliche Beziehung hat). Diese Begegnung motiviert sie, ihren Weg fortzusetzen, und zu den verschiedenen Archetypen, die die Figur in sich vereint, kommt ein weiterer hinzu - der männliche* oder weibliche* Archetyp.

8. Begegnung mit „Anima“ / „Animus”, in die sich die Figur verliebt und die / der ihr bei ihrem Abenteuer hilft.

9. Begegnung mit dem/der ersten Mentor:in der Figur.

10. Apotheose - die Figur besteht die Hauptprüfung. Hier erleidet (und überwindet) sie einen symbolischen Tod.

11. Die Figur wird belohnt, weil sie die Herausforderung bestanden hat. Sie erhält entweder einen wichtigen Gegenstand, eine Chance oder besiegt eine:n Gegner:in.

Die Rückkehr

12. Die Figur erhält die Möglichkeit, in ihre eigene Welt zurückzukehren (weil sie ihre Aufgabe erfüllt hat), aber sie will nicht mehr zurück - die unrealistische Welt gefällt ihr besser. Schließlich erkennt sie jedoch, dass sie zurückkehren muss.

13. Die Figur flieht in die reale Welt, aber nicht ohne Hindernisse.

14. Die Figur kann es nicht alleine schaffen, nach Hause zurückzukehren, daher bekommt sie Hilfe von außen - zum Beispiel von Freund:innen.

15. Die Figur kehrt in die normale Welt zurück und verliert ihre übernatürlichen Kräfte.

16. Die Figur übernimmt die Rolle des:r Mentor:in für andere - zu Hause wird sie für das respektiert, was sie über die reale und die magische Welt gelernt hat.

17. Von dem/der Mentor:in wird die Figur zur Legende und inspiriert andere.

Disclaimer

Wie alles in der Welt solltest du auch diese Regeln kritisch hinterfragen, denn manches ist veraltet, manches ist zu einem Klischee geworden, und manches funktioniert in einem bestimmten Fall einfach nicht. Jung und Campbell hatten zum Beispiel eine eher konservative Sicht auf die Rolle der Frau*. Damals wussten sie noch nicht, dass eine Frau* nicht nur nicht gerettet werden kann, sondern dass sie selbst die Retterin sein kann. Außerdem hat jede Drehbuchtechnik etwas mit Vereinfachung zu tun (der Charaktere, der Handlung, des Settings).

Deshalb solltest du dieses Muster nicht einfach reproduzieren, sondern an deine eigenen Bedürfnisse deiner Figur anpassen. Du kannst Ideen von überall her nehmen, sie vermischen, umformulieren und austauschen. Oder du brichst die Regeln vollständig - wie zum Beispiel ein Drehbuch für einen Film ganz ohne Konflikt und ohne Hauptfigur zu schreiben.

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